Disruptive Zeiten – wirklich?
Ich weiß nicht, wie oft ich schon gehört habe, dass wir in disruptiven Zeiten leben würden. So disruptiv, wie noch nie zuvor. Typischer Beleg: Das Benutzerwachstum bei Facebook & TikTok. Der disruptive Superlativ ist natürlich Unfug. Heuristik: Man stelle sich einmal vor, dieses nie zuvor einem Menschen vortragen zu müssen, der 1900 in Königsberg geboren wurde. Oder einem Menschen, der 1820 in Frankfurt geboren wurde. Oder einem, der 1780 in Paris geboren wurde. Überzeugend wird das alles nicht – Facebook! TikTok! Benutzerwachstum! sind einfach kein Maßstab von Gewicht, wenn es um die Disruption von Lebensentwürfen geht. Grüße aus der Jugendliteratur von Klaus Kordon.
Bisher habe ich den disruptiven Superlativ und dessen Verwendung für ein Anzeichen von Naivität gehalten, aber alles in allem für unproblematisch. Da bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, denn einen Nachteil bringt die Haltung, man würde in besonderen Zeiten leben, doch mit: Man versperrt sich die Möglichkeit von der Vergangenheit zu lernen und schneidet sich damit von einer der wichtigsten Quellen von Wissen und Innovation ab. Mit gutem Grund hat einer der erfolgreichen und innovativsten Manager in wirklich disruptiven Zeiten, der Generalfeldmarschall Moltke (Jugend: Däne, Kavallerieangriffe mit Säbel nach Botenritt. Im Alter: Preuße, Artilleriegefechte nach telegraphischer Meldung) in einer seiner größten Innovationen, dem Großen Generalstab, als eine von vier Abteilungen eine kriegsgeschichtliche eingerichtet. Der spätere Erfolg gibt ihm recht: Innovation lernt man auch aus der Geschichte.