Rudimente des Studiums
Der Mensch ist geworden, was er ist. Das unterscheidet ihn vom Tier. Wir können nichts tun, ohne dass es uns nicht auch verändert. Vaclav Klaus hatte einmal in einer Rede vor Absolventen herausgestellt, dass das Wesentliche, was von einem Studium hängen bleibe, nicht Fachwissen, sondern bestimmte Formen, bestimmte Prinzipien des Denkens seien. Für die Ökonomen, die vor ihm saßen und derer er selbst einer ist, sei dies besonders das »Denken im Grenzwert«, also die Fähigkeit zu verstehen, dass die gleiche Maßnahme, die unter den einen Bedingungen zu einer Verbesserung der Situation führt – zum Beispiel eine gesteigerte Wohlfahrt –, unter anderen Bedingungen ebendieser zum Schaden gereicht. Wirkrichtung und Effektstärke, der Grenzwert, seien eben von anderen Variablen abhängig. Was gestern noch richtig war, kann heute falsch sein.
Jetzt bin ich ja auch Ökonom und das Denken im Grenzwert ist mir nicht völlig fremd, zurückschauend auf mittlerweile mehr als zehn Jahre seit meinem ersten Universitätsabschluss gibt es aber zwei andere Prinzipien, relativ offensichtlich inspiriert aus der Spieltheorie, die mein Denken vermutlich noch deutlicher geprägt haben: Zum einen das Mitdenken der Reaktionen und zum anderen das Denken vom Ende her.
Mit dem Mitdenken der Reaktionen meine ich folgendes: In der Spieltheorie ist das zentrale Prinzip, nicht nur seine eigenen Aktionen (»Strategien«) zu betrachten, sondern auch zu berücksichtigen, welche Aktionen die anderen Akteure wählen, nachdem sie gesehen haben, welche Aktion man selbst auszuführen gedenkt. Überraschend oft begegne ich Plänen, die zwar schöne, konsistente Geschichten des eigenen Vorgehens beschreiben, das Optimieren der Gegenseite in Reaktion auf diesen Plan aber vollständig ignorieren und folglich beim ersten Feindkontakt kollabieren. Dagegen anzuarbeiten ist nicht trivial – niemand mag es, wenn eine schöne Geschichte zerstört wird –, aber recht oft sieht man gerade studierte Ökonomen diesen Kampf fechten.
Das Denken vom Ende her ist ein weiteres Prinzip: Eine der Lösungsstrategien für die Spiele der Spieltheorie ist die Rückwärtsinduktion, bei der man Spiele zu lösen versucht, indem man mit der Analyse des letzten möglichen Spielzugs, der letzten Runde, beginnt und sich dann Runde um Runde nach vorne hangelt, bis der Anfang des Spiels, die erste Runde, erreicht wird. Gerade bei komplexen Interaktionen, meine ich, ist der nächste und übernächste Schritt meist recht kontingent, der letzte Schritt (die Unterschrift der anderen Seite unter einen Vertrag, die Zustimmung eines Gremiums zu einem Vorschlag, die Beförderung auf eine ersehnte Position) oft aber recht einfach zu erkennen. Von dort aus zu aktuellen Entscheidung zurückgehangelt, gibt manchmal klar die Richtung auch für den nächsten und übernächsten Schritt vor. Unter studierten Ökonomen ist ein solches Vorgehen vermutlich recht schnell konsensfähig, in anderen Gruppen dagegen ist die Anschlussfähigkeit meinem Eindruck nach begrenzt.
Methoden- und Faktenwissen mögen mit der Zeit verblassen, aber ein Studium gibt dem Denken eine Richtung, die vielleicht nur in Rudimenten konkret greifbar, die einen aber gleichwohl nie wieder loslässt.