Sie sind (nicht) wie wir
Im deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 war die Mobilisierungsgeschwindigkeit von Deutschen und Franzosen zu Kriegsbeginn sehr unterschiedlich. Dem preußischen Generalstab gelang es mit einer ausgefeilten Eisenbahnlogistik und dem gemeinsamen Transfer von Truppen und Material recht zügig schlagkräftige Verbände an die baldige Front zu verlegen. Parallel herrschte auf der französischen Seite noch Chaos. Einheiten konnten wegen mangelhafter Logistik nur langsam von ihren Heimatstandorten verlegt werden und von denen, die die Grenze erreichten, warteten viele noch lange auf Waffen und Munition.
Dieser Unterschied in der Mobilisierungsgeschwindigkeit hätte maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Krieges haben können. Hatte er aber nicht. Aus einem einfachen Grund: Dafür hätten die Deutschen ihn ahnen müssen. Das haben sie aber nicht. Sie gingen im Gegenteil davon aus, dass die Franzosen genauso schnell wären wie sie selbst und warteten daher ab. Die Franzosen wiederum gingen davon aus, die Deutschen seien genauso langsam wie sie selbst, es gäbe also keinen Grund zur Sorge. Der erste Vorstoß des Krieges – die militärisch unsinnige und für die unterlegene Seite riskante Besetzung von Saarbrücken – ging von den Franzosen aus. Preußen gewann den Krieg schlussendlich deutlich – die Mobilisierung war nicht das einzige, bei dem es den Franzosen überlegen war. Hätten die Deutschen allerdings ihre schnellere Mobilisierung ausspielen können, wäre der Sieg womöglich noch schneller und verlustärmer zu erreichen gewesen.
Dem Fehler dahinter, der 1870 Deutsche und Franzosen gleichermaßen traf, begegnen wir auch heute vielfach: Im Zweifelsfall geht man davon aus, dass die andere Seite, mit der man im Konflikt steht, genauso ist, wie man selbst, mit den gleichen Fähigkeiten und dem gleichen Wissen ausgestattet. So abstrakt aufgeschrieben, ist offensichtlich, dass dies ziemlich unsinnig ist. Dass zwei Menschen oder zwei Unternehmen genau gleiche Fähigkeiten und Wissen haben, das ist unrealistisch. Trotzdem verfällt man leicht dieser Annahme: in eigener Selbstüberschätzung (wie die Franzosen) oder in Überschätzung des anderen (wie die Deutschen).
Deswegen lohnt es sich, sich hin und wieder vor ein weißes Blatt Papier zu setzen und aufzuschreiben, was man wirklich sicher über sein Gegenüber weiß – ohne zuvorderst an sich selbst zu denken.